Aus: Tillmann Baerber “Die rote Suppe läuft – ein unvollständiges Krebstagebuch”

6. August 2016

Wandern

Bereits vor 4 Jahren war ich auf der Suche nach irgendeiner Art der Selbsterfahrung oder Herausforderung, um den Krebs verarbeiten zu können. Damals habe ich im Krankenzimmer meist an das Meer, Wind und Sonne gedacht und mein Wunsch wurde stärker, wieder mit dem Windsurfen anzufangen, was ich bis dahin sporadisch betrieben hatte…

Auch an das Wandern dachte ich, nachdem ich einige Folgen der RBB Dokumentation “Mit einem Esel an die Ostsee” von Michael Kessler gesehen hatte. Doch das blieb eher eine verblassende Idee bis Kai-Uwe mir während der Sandow Foto-Session erzählte, dass er seit einiger Zeit ausgiebige Wanderungen in der Umgebung seines Brandenburger Dorfes unternimmt, um die Wanderschuhe für seine nächste Expedition nach Papua Neuguinea einzulaufen. Genau, warum gleich an den Jakobsweg oder eine Wanderung über 200 km von Potsdam an die Ostsee (mit oder ohne Esel) denken, wenn ich Wanderwege vor der Haustür finde.

Letzten Montag war es dann soweit. Entgegen meinen Befürchtungen konnte ich den 5. Chemotherapie Zyklus mit IFOSFAMID gut wegstecken und kam sehr schnell in “Form”. Im Internet fand ich “66 Wanderwege durch Brandenburg” und der 1. der 66 Wanderwege startete am Potsdamer Luisenplatz und führte über rund 20 km zum Schloß Marquardt.

Inzwischen sind wir wohl alle zu sehr in einem technologischen Denken verfangen, das heißt, zunächst brauchen wir stets eine perfekte Ausrüstung und ein wirklich großes Ziel, damit irgend eines unserer Vorhaben die Zustimmung und Anerkennung unserer Freunde oder Facebook Gemeinde findet, also mindestens das Wandern über den Jakobsweg oder Fahrradfahren über die Alpen. Auch meine Gedanken kreisten sofort um mein altes GPS Gerät und die sieben Jahre alten Wanderstiefel, aber gesagt und getan, eine Karte in die Hand nehmen und loslaufen. In meinem Fall war es eine digitale Karte auf meinem iPhone, aber das ich als IT-Administrator nicht zum vollständigen analogen Purismus neige, sei mir in diesem Fall verziehen. Sollte ich den 6. Chemo-Zyklus auch gut verkraften, wird mich meine nächste Wanderung von Potsdam-Babelsberg nach Werder führen.

22.08.2016

Sterben

Zu oft hört man allgemeine Plattitüden über das Sterben, die in Sätzen wie “dann ist es eben soweit” und ähnlichem münden. Natürlich wird hier die Angst vor dem Sterben verdrängt, aber was es wirklich bedeutet, einem Menschen beim Sterben zuschauen zu müssen, wissen die wenigsten. Das gedankenlose Dahinplappern würde sofort verstummen. Jeder Mensch will leben und nicht sterben, Sterben ist ein Kampf zwischen dem Geist, der den Tod nicht akzeptieren will und dem Körper, dessen Organismus irgendwann versagt. Selbstverständlich kann es schnell und unerwartet passieren, bei einem Verkehrsunfall, bei einem Flugzeugabsturz oder im Schlaf. Im Schlaf ohne Schmerzen zu sterben, wünschen wir uns alle. Aber Sterben ist in den meisten Fällen wirklich ein Kampf zwischen Körper und Geist und inzwischen weiß ich, dass die Aussage “Der Tod war eine Erlösung” leider stimmt.

Während des letzten Chemo Zyklus mußte ich einem 25-jährigem fünf Tage beim Sterben zuschauen. Sein Körper war schon voller Metastasen, am Kopf, in der Leber und an der Wirbelsäule. Dazu noch ein Bruch des Oberschenkelknochens verursacht durch seinen Knochenkrebs. Bei seiner kombinierten Chemo- und Strahlentherapie ging es nur noch darum, Symptome und Schmerzen zu lindern. Über zwei Jahre hatte jede Therapie versagt und eine Heilung erwartete niemand mehr. Die Ärzte und Schwestern wußten es – und ich wußte es nach den 5 gemeinsamen Tagen im Zweibettzimmer. Aber er konnte es immer noch nicht akzeptieren und seine Eltern verstummten an seinem Bett in regelrechter Ratlosigkeit, ohne begreifen zu wollen, dass ihr 25-jähriger Sohn sterben wird.

In vier Nächten fast ohne Schlaf habe ich miterlebt, wie mehrere Körperfunktionen bei einem Menschen regelrecht Amok liefen und nach und nach versagten, obwohl er sich mit aller Kraft dagegen stemmte. Die erste Nacht war bestimmt von ständigen Schweißattacken meines Mitpatienten, die auf die Gabe von Opiaten zurück zu führen sind. In der zweiten Nacht kamen die Rückenschmerzen, die von seinen Schreien begleitet wurden. Nach mehrmaligem Klingeln erschien die Nachtschwester endlich und meinte, er müsse sich eben eine bequemere Position im Bett suchen. Mir fehlten die Worte! Schmerzen, möglicherweise verursacht durch eine Metastase an der Wirbelsäule und eine bequemere Position im Bett suchen? Ich bestand darauf, etwas gegen seine Schmerzen zu unternehmen, vielleicht einen Bereitschafts-Arzt zu rufen, der die Schmerzpatienten in der Nachtschicht betreut. Mein Wunsch nach einem Arzt verhallte im Nichts der Nachtschwester, aber sie würde jetzt nach dem Schmerz-Infusionsapperat suchen (!) und bis dahin einen Tropf legen, um die Zeit zu überbrücken. Gesagt, getan. Leider tropfte die Infusion zunächst nicht und ich hörte nur “Ich kann hier sterben und klingeln, aber es kommt keiner mehr”. Erfahrene Patienten kennen den Trick mit dem Tropf, manchmal hilft es, ihn einfach etwas höher zu hängen, zum Beispiel an eine Schranktür. Somit konnte ich helfen. Nach einigen Minuten kam die Schwester tatsächlich mit der Apparatur und die Schreie gingen bald in ein leichtes Stöhnen und Schnarchen über. Doch gegen 6.30 Uhr waren die Schmerzen zurück. Diesmal bin ich mit meinem Chemo-Apparat gleich zum Stationstresen gerollert und habe mir das Klingeln gespart. Die erfahrene Schwester C. aus der Frühschicht ließ sofort alles liegen und stehen, 2 weitere Schwestern kamen hinzu, um zu helfen und innerhalb der nächsten 30 Minuten war ein Schmerzmediziner am Bett meines Zimmernachbarn.

Ich glaube, die dritte Nacht war nur ein Dahindämmern unter leichtem Stöhnen, aber in der vierten Nacht wurde ich von einem “Ich spüre meine Beine nicht mehr” geweckt. Mehrmalige Versuche aufzustehen, scheiterten unter Tränen. In der fünften Nacht versagte die Blase, ein Katheter mußte gelegt werden. Am Morgen des fünften Tages wurde mein Zimmernachbar in ein Einzelzimmer verlegt.

23.08.2016

Laufen, Laufen

Meine zweite Wanderung am letzten Freitag hat mich wie geplant von Potsdam nach Werder geführt. Die ersten Kilometer bin ich förmlich losgerannt in der Hoffnung, endlich die immer noch präsenten Erinnerungen an meinen sterbenden Zimmernachbarn aus dem Kopf zu bekommen. Nach einer ersten kurzen Pause am Zeltplatz Pirschheide waren die Bilder tatsächlich verschwunden und ich habe die Umgebung meines Wanderweges überhaupt erst wahrgenommen, davor war es nur ein Laufen, Laufen, Laufen …. Diesmal hatte ich auch auf jegliche Navigation oder Routenplanung verzichtet, der Weg schien mir einfach. In Potsdam geradewegs entlang der Havel bis nach Pirschheide, dann ein Stück durch Glindow, von dort in den Wildpark West, Ankunft am Bahnhof Werder und von dort noch bis zur Insel Werder und dann mit dem Regionalexpress zurück nach Potsdam. Im Wildpark West stand ich dann plötzlich im Nichts einer Waldlichtung, nicht einmal ein Waldweg war mehr zu entdecken und ich mußte mich durch ein Gestrüpp wilder Himbeeren schlagen, die im übrigen aber wunderbar schmeckten. Ich hatte mich in einer Umgebung verlaufen, die nicht tausende Kilometer entfernt in einem unbekannten Dschungel lag, sondern fast vor der Haustür, Orte von denen wir gewöhnlich meinen, sie wären uns vertraut und bekannt. Aber ein Pfad führt herein und ein anderer führt heraus und so fand ich nach kurzer Zeit auf den richtigen Weg zurück.

Die neue Sandow Platte soll “Entfernte Welten” heißen und diese entfernten Welten liegen wohl nicht immer in der Ferne, wir können sie oft in unmittelbarer Nähe entdecken, wir haben es nur vergessen oder verlernt. Auch das Sterben ist so eine verdrängte und vergessene entfernte Welt, die ich jedoch nicht zu schnell erneut betreten möchte!