11113. Die Zahl sieht irgendwie magisch aus und sie bewegt sich nicht. Seit drei Tagen keine Frontbewegung an der Startnext-Flanke. Wenn man mal Lotto gespielt hat, kennt man das. Man glaubt felsenfest an den Gewinn, daran, dass sich schon etwas tun wird. Hundertpro. Dass es funzt, dass es explodiert. Wir stehen also bei diesen 11113,-€ und das ist soviel mehr als wir gedacht hatten, aber es ist auch schon eine Weile her, dass wir das gedacht hatten. Na klar, wir sollten dankbar sein und sind es ja auch! Wie verrückt! Aber die Faszination jedes Erfolges macht einen schleichend unersättlich und nur mehr ist mehr! Auch irgendwie widerlich diese schamlose Gier, schlimm, aber wie sagt mein guter Freund Russ Marasus „I can get no fettes Säckchen“. Yeah. Uns hat es auf den Genfer Sporn gespült, den Second Step, den Silbersattel, auf die Grasslands. Orte, von denen wir nicht träumten, sie zu erreichen, doch jetzt sind wir schon mal da, nun wollen wir auch den Gipfel sehen. Die Sturmkoppe, den Nanga, die Trango.Towers. Also jetzt bloß nicht schwächeln. Ich kenne das, diese Interimslähmungen, dieses Warten worauf nur, dieses in Frage stellen des Ganzen. Frieren und grübeln. Hermann Buhl hat Perventin eingeschmissen, Messner hat mit seinem Rucksack geredet und Scott schrieb Wichtiges ins Tagebuch, kurz vor seinem Tod, die Rettung nur ein paar Meilen weit.
Stop it Baby. Demütig sein, dankbar sein, die Emotionen professionell an die kurze Leine nehmen, das Wissen, wie schnell alles wieder vorbei sein kann. Und gerade jetzt, wo ich diesen Text schreibe, nimmt Walter Pinco einen guten Schein in die Hand und vermasselt mir das Lamento und die magische Zahl. Sie hat sich plötzlich auf 11163,-€ erhöht, doch nun ist der alte Rausch wieder da. Es gibt also noch Leute, die an unsere Mission glauben, wir sind nicht allein im All, wir werden auf dem Gipfel stehen. Jessas auch!
Mich turnt es immer ab, mit dem Hut herum zu gehen. Das Gauklerleben ist schon okay, aber die Nummer mit dem Hut konnte ich nie leiden. Andern auf die Füße treten. Hey Sugar hau mal was rein. Dammich. Ich muss mich dann betrinken, meine aristokratischen Grundauffassungen über Bord kippen und an etwas anderes dabei denken, dann geht es, vielleicht. Diese elende Akquise-Nummer. Henry Miller schrieb, das erste Privileg des Künstlers ist der Selbstmord.
2001. Sandow gab es gerade nicht. Wir pausierten aus privaten Zwistigkeiten. Ich erinnere mich an ein Konzert mit Russ and the Velvets in Chemnitz. Wir spielten in einer Kneipe. Keine Gage, Getränke frei, keine Abendkasse, denn am Schluss sollte ein Hut rumgehen. Da käme immer mehr bei rum, als wenn man Eintritt nimmt, sagte uns der Veranstalter. Ja scheiß drauf, wir hatten Durst und legten einen kranken Set hin. Der Laden war rappelvoll. Ich dachte darüber nicht groß nach. Musik zu machen, war verkommen zu einem Bettelgeschäft, die ganze Branche kroch auf dem Zahnfleisch und wir spielten nun für den Hut in einer Schenke in Chemnitz. Wie tief waren wir gesunken. Jeder Stricher am Bahnhof Zoo brachte mehr Umsatz, als wir in den letzten Jahren. Ich nahm die Getränke mit und hatte ab der Hälfte des Konzertes einen mittelmäßigen Blackout. Der Hut ging rum und wenn er die Spritkosten reinbrachte, war wahrscheinlich schon einiges los. Die Leute waren happy. Sie hatten es richtig günstig besorgt bekommen. Dann wurde es dunkel um mich herum.
Nach einer ungewissen Zeit kam ich wieder zu mir. Ein kleines, einem Büro ähnlichen Kabuff mit Neonröhren umgab mich und sollte wohl heute Nacht zu unser Übernachtung dienen. Matratzen lagen auf dem Boden. Schlafsäcke waren ausgerollt. Zu was für armseeligen Pennern waren die glorreichen Velvets verkommen. Die Kollegen beachteten mich nicht großartig. Sie hatten was zu besprechen, doch mich befiel der Heißhunger. Der gewiefte Veranstalter hatte uns nur mit ein paar beschissenen, gefüllten Champignons abgespeist, „was Gesundes für die Musiker“. Mir schoss die Wut aus der Wampe. „Ich will Gegrilltes! Gegrilltes!!!“ schrie ich und wankte aus dem Kabuff. Ich irrte eine Stahltreppe hinab und fand mich plötzlich in einem hell erstrahlten Hangar wieder. Und dann sah ich sie. Eine gewaltige Segelyacht. Aufgebockt, makellos. „Ein Boot, ein Boot…“ Es war wie eine Vision. Das Gefühl, es mit den Augen Fitzcarraldos sehen zu dürfen. Eine betörende Erscheinung, Dalis Bild von Kolumbus Abfahrt schraubte sich innerlich hoch. Was für eine schöne Segelyacht, doch gestrandet in einer tristen Halle. Die große Anklage! Die unermessliche Sehnsucht, das offene Meer erreichen zu müssen, endlich alles hinter sich zu lassen, Fahrt aufzunehmen, und am anderen Ende der Welt eine Oper in den Dschungel bauen. Teufel auch. „ Ein Boot…“. Es erschien als die Lösung für alles und zugleich das letzte große Problem, ein Boot ohne Meer…
Ich war wohl schon länger in Faszinationsstarre und auch zu Boden gesunken, als Fightclubandy und Dr. No mich endlich fanden. „Kaichen, hier bist Du ja, was machst Du denn hier? Komm mal schlafen“. „Meine Lieben seht nur, ein Boot.“ Sie lachten sich halb schlapp. „Wir dachten, Du willst Gegrilltes, na komm schon, wir gehen pennen“. Ich stammelte nur “Ein Boot…“ „Ja, ja ein Boot, na klar, hahaha…“ Ich wurde abgeführt.
11163. Die neue Zahl starrt mich an und ich weiß, es ist noch ein langer Weg, bis unser neues Sandow-Boot endlich genug Wasser unter dem Kiel hat. Notfalls wissen wir ja von Fitzcarraldo, was zu tun ist. Ein Berg ist letztlich auch nur eine Wasserscheide. Also auf geht’s. Auffi muß i. Die Vorproduktion in Lütte ist nun beendet und Ende Januar werden wir beginnen, die Aufnahmen zu mischen. Das Material klingt intensiv, roh und rau und alles fühlt sich neu an. Wir werden sie schon vom Stapel kriegen, die prächtige „Entfernte Welten“. Mit der Hilfe unser treuen Begleiter, unser Sandow-Community, die es ebenso wollen, wie wir.
Ich muß an ein weiteres Velvets-Konzert in Chemnitz denken. 2002. Ein Jahr später waren wir wieder da, diesmal hatten wir einen Clubdeal, Festgage und ein 5-Sterne-Hotel. Wir legten einen blitzsauberen Soundcheck hin, aber an der Abendkasse war Flaute. Vier zahlende Gäste. Unser Einsatz am Hut fand wenig Nachhall. Das Konzert wurde abgesagt. Der Clubchef blätterte uns die Gage hin und wir pflanzten uns in die 5-Sterne-Hotel-Lobby und brachten den Cash an den Mann, den Barkeeper. Wir hatten schon einiges intus, als die Drehtür ging und die drei Könige herein spazierten. Dirk Zöllner, Dirk Michaelis und Andre Herzberg. Wir begrüßten uns beiläufig. Sie nahmen Platz an einem runden Tisch. Wir waren am Tresen zu Gange. Daiquieries hieß die Platte, die jetzt schon drei Stunden für uns spielte. Am runden Tisch bekamen sich die drei Könige in die Wolle, wer in der Show wann dran war und wann wer dann eher sich zurückhalten sollte. Sie hatten gerade die Chemnitzer Stadthalle vollgemacht und wollten jetzt noch das eine oder andere optimieren. Wir saßen da und hatten zu allem keinen Text und keine Gedanken. Unser Boot war schon sehr weit hinaus gefahren und hatte die Ufer von Nirvana im Ausguck ausgemacht. Es fühlte sich gut an, nicht die Probleme von erfolgreichen Musikern zu haben. Wir waren die Velvets, lässig und verkommen. Russ kam vom pinkeln zurück. „Jungs, ihr glaubt nicht, was auf meinem Zimmer los war. Auf dem verdammten Fernseher stand „Herzlich Willkommen Herr Marasus“. Wir nickten. Die Sache schien zu laufen. Für uns. Als der Barkeeper Feierabend machte, blieben wir sitzen und schenkten selbst anständig nach. Seine Regale waren gut bestückt. Wir hatten es uns verdient.
kuk