KUK, 20.01.2017
Vögel singen, der Wald duftet. Es ist so friedlich hier im Potsdamer Stadtforst. Aus der Ferne schieben sich Bässe durchs Gehölz. Wir sind zu viert. Kai Grehn, meine Schwester, Dr. Meineid und ich liegen im Gras. Ich schwebe in mir. Es ist ein wunderbarer Sommerabend im Jahre 1994 und wir sind angekommen. An einer Grenze. Die weit offenen Synapsen werden sich heute nicht mehr schließen. Ich weiß das und ich wollte das. Das Abendlicht flutet mich. Zwei Käfer ficken und alles scheint irgendeinen Sinn zu haben.
Die Grenze besteht aus einem kleinem Büdchen und einem Zaun, der sich links wie rechts davon in das Unterholz windet. Vier muskulöse Hirntote bewachen den Eingang. Wir sind abgewiesen worden. Von wegen wir stehen auf der Liste. Geld haben wir nicht, also dösen wir am Wegesrand. Ich habe kein schlechtes Gewissen, dass ich meine Freunde völlig umsonst hierher gelotst habe. Alles hat seine Bestimmung auf LSD und wir sind seit zwei Tagen auf dem Stoff und eines löst das andere ab. Zum Frühstück Hackepeter. Mit der Hand ins Maul gestopft. Die Offenbarung einer S-Bahn-Fahrt. Wodka darf nie alle sein. Die Käfer wissen das. Sie nehmen mit, was geht. Wie steht es um die Hirnis am Büdchen? Werden sie diese Welt je verstehen? Arme Krauter. Gehen arbeiten. Die Bässe aus der Ferne nehmen Kontur an. Eine schöne Melodie. Ich kenne sie! Es ist der ultimative Basslauf. Ich liebe ihn! Ich weiß auch, was ihm folgen wird. Komm in mein… Fuck die Scheiß Grenze! Fuck die Scheiß Hirntoten! Ich gehe jetzt da dadurch!!! Ein einziger Gedanke, als ich mich auf die Fleischpakete zu bewege. Ich gehe jetzt dadurch. Ein einziger Gedanke, fokussiert durch diese Basslinie…BÄNNNG!
Dreiundzwanzig Jahre später lese ich Flakes Buch „Heute hat die Welt Geburtstag“. Ich erreiche die Seite 83 und bekomme einen kurzen Lachkrampf. Dann überfällt mich Pein und Wehmut und erkenne, welche Paralleluniversen möglich sind. Auch er hat jenen Abend erlebt. Die noch fast unbekannte Band Rammstein hatte ein Konzert mit den Inchtabokatables organisiert, in jenem Potsdamer Stadtforst, dann geschah Bedauerliches. Es war nur wenig Publikum gekommen, dennoch war das Openair beträchtlich professionell aufgestellt. Weiträumige Absperrung, Ordner allenthalben.
BÄNNNG! Die Hirntoten hatten meinen Move nicht erwartet. Ich schlurfte teilnahmslos auf sie zu. Wie ein Kiffer. Wie ein Loser. Und das war ich vermutlich ja auch. Doch das Bassthema zerrte an den Synapsen und dann hörte ich es auch schon: „Komm in mein Boot!“ Ja sicher doch! Bin gleich da! BÄNNNG! Ich schnellte durch das tumbe Fleisch und hatte gut fünf Meter Vorsprung. Den konnte ich nicht groß ausbauen, aber ich hielt die Distanz. Das Testosteron hinter mir kämpfte. Der Pfad glich einem Schlauch durchs Unterholz. Ein schmaler Waldweg. Wie in Treblinka! Dachte ich! Ich schaffte mich in einen irren Sprint und zeigte Beinarbeit. Gut hundert Meter, dann tauchte die Bühne auf. Die Rammsteiner am Werkeln! In den letzten Wochen waren sie unsere Vorband gewesen und jetzt auf ihrem Weg zum Endsieg. Als kleines Dankeschön hatten sie uns auf die Gästeliste gesetzt. Ist wohl irgendwie untergegangen. Anyway. Zurück zum Showdown. Es ist nun so, dass solche Geschichten immer ein albernes Ende finden. Ich wußte das nicht. In mir tobte Aguirre. Ich wollte Eldorado erreichen. Den Indios der neue Gott sein! Und einfach nur dieses verdammte Lied hören!!! Zum Teufel mit den Hirntoten, die zwei Meter hinter mir ihrer sicheren Beute nachjagten. In einem hohen Bogen hechtete ich auf die Bühne. Der einzige sichere Ort. Was für ein grotesker Auftritt. Die Rammsteiner stutzten, aber spielten ihren „Seemann“ einfach weiter. Der erste Refrain war vorüber. Die Hirntoten standen vor der Bühne und niemand hatte mit ihnen diesen Ernstfall geübt. Sie trauten sich nicht herauf. Ihnen fehlte es an Mumm. Ich kauerte am Bassamp. Till brachte mir eine Flasche Wermut. Ich nahm einen ordentlichen Hieb. Er redete beruhigend auf mich ein. Dann mußte er die zweite Strophe bringen. Der Wermut schien mich melancholisch zu stimmen. Diese prächtigen Jungs waren schon ein paar harte Brocken, aber sie konnten auch klagen. Wunderbar. Nur der Sound war irgendwie räudig. Ich kann ja helfen, dachte ich. Wer mal gesehen hat, wie ein Speedfreak eine Glühbirne wechselt, wird sich eine Vorstellung davon machen können, was jetzt passierte. Ich justierte an sämtlichen Verstärkern der Gitarristen den Sound nach. Schraubte Höhen rein. Echos, Hall, remixte vor mich hin. Der Hass der Rammsteiner wird mir wohl entgangen sein. Ich wollte helfen. Es geht doch immer noch etwas besser! Was für ein grotesker Wahn. Ich fühlte mich wohl dabei. Na geht doch. Dann packte mich Till am Schlawittchen und zog mich von den Verstärkern fort. Ich kann mich nicht erinnern, aber Flake schreibt „Wir wirkten wahrscheinlich alle wie unter Drogen, niemand konnte da genau wissen, wer dazugehört und wer nicht. Das war unserem Freund auch nicht ganz klar, und so griff er sich ein Mikrophon und fing an zu singen. Da er unsere Lieder nicht kannte, sang er die Texte seiner Band, um uns dann lauthals zu beschimpfen“. Es wird wohl so gewesen sein. Flake schreibt weiter, sie hätten mich dann in ihren Bus gesperrt, aber es lief etwas anders. Soviel weiß ich noch! Ich spürte mich plötzlich fehl am Platz. Manchmal bemerkt man es ja auch, wenn man es verkackt hat. Ich wußte, ich muss von der Bühne runter, um die Peinlichkeit zu beenden und die Rammsteiner nicht mehr zu stören. Doch vor der Bühne lauerten die untoten Fleischpakete. Mich flutete Angst und Gewissheit. Dann sah ich den Bus der Inchtabokatables und Bäääng! Mit einem großen Sprung stürmte ich hinüber. Wieder die Idioten hinter mir. Hechelnd. Geistesgegenwärtig riss Robert Beckmann, der Sänger der Inchtabokatables die Bandbustür auf und schloß sie schnell hinter mir. Ich war in Sicherheit. NineteenNervousBreakdowns. Ich brach zusammen. Ich weinte, schluchzte, bibberte. Ein Kriegszitterer. Ich hatte Verdun überlebt. Ich hatte ganze fünf Minuten Rammstein hinter mir.
Käptn kuk
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Tag Fremder
Ich kenne solche Momente.
Peinlichkeiten, die einen viele Jahre verfolgen und dennoch hätte man in solchen Momenten nicht anders handeln können. Ein innerer Drang nach Bestätigung, Anerkennung, ein Aufschrei oder weil die anderen nur auf so einen Fauxpas warten. Das nennt man wohl Leben, sich lebendig fühlen.
Mir geht es gerade nicht so gut…von der allgegenwärtigen Krise mal abgesehen ist noch etwas passiert. Das kann ich noch nicht begreifen., das braucht Zeit.
Am 15.4. wäre mein Vater 85 Jahre alt geworden. Wir besuchten ihn (Gefährte und ich), mit meinem Sohn fuhr ich Abends nochmals auf den Friedhof).
Es war ein schöner Tag wie zur Zeit jeder Tag schön ist, sofern man Sonne mag, die gleißend hell scheint und sich in die Augen brennt.
Wir saßen auf der Bank vor dem Urnenfeld und lauschten den Vögeln.
Es war so ein Moment, an den ich mich erinnern werde.
Überall Löwenzahn, Gänseblümchen, paar Insekten schwirrten umher und kein Mensch war in der Nähe…in der Ferne Autos auf der Straße…die Luft roch so frisch und war kühl, wie sie nur im Frühling sein kann.
Irgendwann gingen wir zum Parkplatz zurück und bevor wir los fuhren, checkte ich mein Diensthandy. Da war eine mir unbekannte Nummer. Ich vermutete eine neue Nummer irgend eines Klienten. Ich rief dort an…und es meldete sich ein Herr W. Ich sagte ihm, dass er sich verwählt hätte, hier wäre das ambulant betreute Wohnen…er schien verunsichert und sagte: „Ist da nicht S?“.
„Ja, die bin ich“.
Er sagte, er wäre Ralph, der Mann von Fanny.
„Ahhh Fanny T.???“ So hieß sie früher und da war mir klar, sie ist ja verheiratet und heißt jetzt W. Ich kenne ihren Mann nur aus ihren Erzählungen.
„Fanny ist tot“. Er sagte das… tonlos.
Ich konnte nicht sprechen.
Mir war schlecht.
Gelähmt.
Er sagte, sie ist am Montag eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Er sagte, dass er mit Hilfe der gemeinsamen Tochter das Handypasswort von Fanny geknackt hat und jetzt alle Nummern anruft.
Er sagte, dass sie oft von mir gesprochen hat.
Fanny war meine Schulfreundin. Vor einem halben Jahr war sie noch hier und saß auf dem Sessel neben der Tür und wir redeten über uralte Zeiten und es tat gut, dass sie da war.
Damals waren wir Abends oft am Zippendorfer Strand und haben die ersten Zigaretten unseres Lebens geraucht.
Fanny rauchte immer Cabinet. Ich damals Club.
Fanny hatte konkrete Vorstellungen von ihrem Leben.
Sie wollte heiraten, zwei Kinder; einen Jungen und ein Mädchen und ein Haus und ein Auto und reisen und eine gute Arbeit…ich wußte damals nur, was ich nicht will.
Für Fanny war ich ein Abenteurer, der sie zum lachen brachte.
Für mich war Fanny eine Konstante, sie war schon damals sehr vernünftig und wirkte dadurch reifer.
Und jetzt ist sie tot.
Ich kann Fanny nicht die letzte Ehre erweisen!
Nur 9 Leute dürfen auf Grund der Coronakrise zur Beerdigung, die im Freien statt findet. Nicht mal ihre gesamte Familie darf dort sein! Schrecklich.
Ich bot Ralph Hilfe an am Telefon, so hilflos wie ich selber war und bin.
Abends telefonierte ich noch lange mit Gabi, die ging auch in unsere Klasse.
Sie weinte. Ich weinte.
Und jetzt brauche ich Zeit, das alles zu verarbeiten.
Und um den Bogen zurück zu spannen, höre ich jetzt „Stille Invasion“ von euch. Ich mag diesen Song sehr.
Zotte