Auf Tuchfühlung gehen, mit den Menschen, die zum Konzert kommen, das war früher gang und gebe und hatte oft Happening-Charakter. Wenn man selbst nicht alle Tauben auf dem Dach hat, braucht man sich nicht wundern, wenn man anderen Leute mit Dachschaden begegnet oder diese gar anzieht. Magisch anzieht! Wir haben es so oft erlebt und sind nicht schlau draus geworden. Dresden in den frühen Neunzigern. In der Scheune auf dem Gang zur Bar. Ein Typ steht vor mir und zieht ein Messer. „Du Schwein hast meine Freundin geschwängert. Du bist fällig!“ „He mach mal langsam Kumpel“. Ich war Gottseidank betrunken und verspürte eine angenehme Gleichgültigkeit. „Ich mach überhaupt nicht langsam, Du Drecksau, Du hast meine Freundin geschwängert!!!“ Ich hatte mal in Ungarn einen Chuck Norris – Film gesehen. Die alberne Wirkung der ungarischen Synchronisation tat Chuck genauso wenig gut, wie der sächsische Akzent dem Anliegen meines rechtselbischen, neuen Freundes hier. Ich ließ meine Kommandostimme von der Leine, diabolisch und kalt. „Hör mir zu. Du bleibst jetzt exakt hier stehen. Ich hingegen komme gleich wieder. Hast Du das verstanden ?!“ Ich ging lässig an ihm vorbei, Richtung Bar. „Eh sag ma…Du Schwein, Du hast…“ Am Tresen erwischte ich Chris im Gespräch mit einer Brünetten. „Chris-Baby, da ist so ein Beknackter mit `nem Messer. Kannst Du da mal nach dem Rechten schauen?“ „Wo ist er, der gehört mir.“ Chris setzte sich in Bewegung. Im vorrüber gehen fischte er einen Feuerlöscher von der Wand. Man muss wissen, dass Chris in jener Zeit auf den Kosenamen „Kamerad Rottweiler“ hörte. Wir bogen in den Gang ein und da schau her, der Typ mit der schwangeren Freundin stand wie angewurzelt und unverändert mit dem Messer im Anschlag. Irgendwer musste ihn hypnotisiert haben. Dann wachte er auf. Er sah Kamerad Rottweiler auf sich zu eilen. An Entschlossenheit schien es diesem nicht zu mangeln. Der Feuerlöscher fauchte und spuckte Schaum. Der Sachse an sich mag tapfer sein, doch wenn ein irrer Preuße naht…Der Gehörnte ließ das Messer fallen und türmte. Chris war sauer. „Was für eine Pfeife war das denn?“

Ortswechsel. Irgendwann in ähnlichen Zeiten. Döbeln. Wir hatten einen Landgig hinter uns gebracht und waren auf Hausbesuch bei einem jungen Fan. Chris hatte was mit ihr zu bereden und wir brauchten Quartier. Es waren zwei kleine Zimmer in einem 50er Jahre Bau. Chris war schon im hinteren Zimmer am werkeln. Berber und ich hockten auf dem Fußboden und tranken billigen Wein aus der Pappe. Es war öde, aber wohltuend. Hier würden wir wohl irgendwie gleich einschlafen. An den Wänden hingen Wimpel von Chemie Leipzig. Aus dem Nebenzimmer erklang Gekicher, ich steckte mir eine Karo an. Das beengte Leben auf Tour ließ einen oft zwangsläufig das Intime der Kollegen miterleben. Das war bei Opa im Krieg wahrscheinlich auch so. Bei den Orchester -aufnahmen zur fatalia in Prag teilte ich mir mit Chris ein Zimmer und er hatte eine Amerikanerin aufgetan. Da Chris des Englischen nicht mächtig war, durfte ich den Smalltalk allabendlich übersetzen. Es langweilte mich und ich brachte ein paar interessante freie Interpretationen hinein, um die Sache etwas heißer ins Laufen…Peng!!! Die Tür krachte aus den Angeln. Ein Schnauzbarttyp mit einer riesigen Axt stand in der Döbelner Bude. „Wo ist das Luuder? Wo ist die Schlambbe?“ Kamerad Rottweiler linste um die Ecke und sondierte die Lage. Dann hörte man sie. „Du Blödmann, verpiss Dich! Du hast mir gar nichts zu sagen!“ Der Schnauzbart ging zwei langsame Schritte vorwärts, die Axt wedelte auf und ab. „Bist Du der Todeskandidat, der meine Schwester figgt?“ Chris pulte sich am Ohr rum und schien Zeit gewinnen zu wollen. „Kann schon sein.“ Die Schwester erschien auf der Bildfläche, nur notdürftig bekleidet. „Karschten, hau einfach ma ab und lass uns in Ruhe, Du Scheiß-Kunde!!“ Der Schnauzbart fuchtelte mit der Axt herum, brachte ein paar Turns wie ein Hammerwerfer, zeigte Beinarbeit. Gleich würde etwas geschehen. Die Zeit erstarrte und mir brannte der Schädel. Chris oder die Schwester oder gar beide. Oder wir alle zusammen waren gleich Hackfleisch. Warum gab es soviel Elend auf der Welt, Aggression und Krieg? Was war da los? Man konnte doch auch friedlich feiern und sich halbwegs nett finden. Eine Erinnerung fuhr in mir hoch. Salzwedel. Tag der Einheit. Genau genommen die Nacht davor. Wir spielten und plötzlich kamen hundert Leute mit Deutschlandfahnen grölend in den Saal. Gütige Scheiße. Die Einheit war angebrochen. Wir machten Feierabend und packten die Geige ein. Es kamen einige Fans nach Backstage. Ich beschloss dem Gelage beizuwohnen und ließ den Bandbus sausen. Plötzlich kam ein Banker aus Hamburg herein und bot tausend DM, wenn wir noch weiter machen würden. Meine Band war schon auf dem Heimweg. Ich aquirierte kurzerhand einen gemischten Chor im Cast der Backstagefans und kassierte den Tausender. Wir enterten die Bühne. In Front davor saß nun der Banker auf einem Sessel, hinter ihm der Mob mit den Deutschlandfahnen. Gewisse feierliche Erwartungen lagen im Raum. Wir gaben die „Internationale“ durch. Dann die „Moorsoldaten“. Bei „Partisanen von Amur“ hatten sie die Faxen dicke und schickten uns prügelnde Ordner auf den Hals. Wir gingen stiften, doch hatten den Tausender in der Tasche. Salzwedel, Perle der Altmark, Deine Schenken lagen uns zu Füßen. Wir zogen von einer zur nächsten, endeten an einem Kiosk und waren beizeiten sternhagelblau. Glück war möglich. Hart erarbeitetes Glück natürlich. Gesang sollte sich wieder lohnen in Deutschland. Der Film spulte sich runter und verlosch. Irgendwann wurde ich ins Hotel getragen. Ich soll noch versucht haben, es zu kaufen.

Der Film, der permanente Film. Das war es in diesen Jahren. Man schwamm ständig in einer Art Film durch die unmöglich gewordene Realität. Es war eine Art Coucon im Kampf mit den Drachen. Das half zu überleben. So auch in Döbeln. Ich starrte an die Wand, auf die grünweißen Wimpel. „Karsten, bist Du Chemiker?“ – „Logisch bin ich Chemiker.“ – „Mein Cousin hat mal bei Chemie gespielt, linker Verteidiger.“- „Linker Verteidiger?“ Er nannte irgendwelche Namen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, aber ich wusste, mein Cousin war bei der Kindermannschaft von Chemie ein paar Jahre zu Gange gewesen. „Nee, nee, Ronald Scharschmidt meine ich, linker Verteidiger, Außenbahn.“- „Nie gehört, Scharschmidt.“ – „Mensch, Scharschie haben wir den genannt. Anfang der Achtziger, musste doch wissen.“ –  „Du bist also ooch Chemiker?“ – „Logisch, bin ich Chemiker, sehe ich aus wie ein Lok-Schwein?“ Er ließ die Axt sinken, stellte sie an die Wand und setzte sich zu mir. Wir machten uns eine Karo an und er fingerte eine Flasche Wermut aus dem Regal. „Scheiß Weiber.“ – „Wem sagst Du das.“ Die Kinderzimmertür nebenan schloss sich lautlos. Der Wermut kreiste und wir hatten noch einiges zu bereden.    kuk